Mental Health – vom kranken Umgang mit der Gesundheit

Barbara Kolocek | 16.11.2023 | 6 Minuten Lesezeit

ein Mann sitzt im Regen auf einer Bank und trägt eine gelbe Jacke
Quelle: Barbara Kolocek

Das Wichtigste in Kürze

In vielen Unternehmen besteht eine Herausforderung im Umgang mit psychischen Belastungen, da sowohl das Fehlen einer offenen Kultur für diese Themen als auch geringe Investitionen in Gesundheitsmanagement und die mangelnde Aufmerksamkeit der Führungsebene dazu führen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich scheuen, über ihre psychische Gesundheit zu sprechen, was letztlich zu Stigmatisierung, unzureichenden Hilfsangeboten und wirtschaftlichen Auswirkungen führt, und die Vision eines Unternehmens, das sich nicht nur auf wirtschaftliche Erfolge, sondern auch auf das Wohlbefinden seiner Belegschaft konzentriert, bleibt eine zu erreichen hoffende Utopie.

Unsichtbar krank sein fühlt sich manchmal richtig einsam an. Vor der Pandemie litt circa eine Milliarde Menschen unter psychischen Erkrankungen. In Deutschland ist jede vierte Person einmal im Leben davon betroffen.

„Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Ipsos im Auftrag des Versicherungskonzerns Axa bezeichnet sich fast ein Drittel der Befragten als psychisch erkrankt. 32 Prozent erklärten, dass sie unter Depressionen, einer Angst- oder Essstörung, Zwangsneurose oder anderen psychischen Erkrankungen leiden.“
(Spiegel)

Die Rechnung ist simpel: Fallen Arbeitskräfte wegen psychischer Belastungen aus, hat das wirtschaftliche Folgen. Die dahinterliegenden Probleme sind vielseitig: Mitarbeiter/-innen, die sich ihrer Krankheit nicht bewusst sind. Mitarbeiter/-innen, die ihre Krankheit erkennen, sie ihrem Umfeld aus Angst vor Stigmatisierung aber verschweigen. Unternehmen, die nicht wissen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen … Das Problem liegt zum Teil im System selbst.  

Einige Unternehmen glauben, „Prävention“ würde eine ergonomische Büroausstattung, gesundes Kantinenessen oder nur das Angebot von Resilienz-Trainings bedeuten. Zoomen wir in die Unternehmen hinein, bekommen wir ein tieferes Verständnis dafür, an welchen Stellen es im Gesundheitsmanagement schon lange mangelt.  

1. Wir haben nicht die Kultur, um über psychische Belastungen offen zu sprechen

Es gibt sie, die Unternehmen, die ein Portfolio an Angeboten zur präventiven Förderung und zum Erhalt der psychischen Gesundheit anbieten und dennoch fällt es vielen nicht leicht, diese anzunehmen oder in der Gesellschaft darüber zu reden. Der offene Umgang mit der eigenen psychischen Belastung wirkt sich nicht immer positiv aus, da betroffene Mitarbeiter/-innen noch heute sehr schnell verurteilt und in Schubladen gesteckt werden. 

„82 Prozent aller befragten Arbeitnehmer/-innen trauen sich nicht, offen über psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu sprechen, würden dies aber gerne tun.“
(Ipsos Mori, Teladoc Health) 

  „Jede/r zehnte Mitarbeiter/-in, der/die psychische Belastung/Erkrankung auf der Arbeit offen kommuniziert, wird gemobbt, zurückgestuft oder gekündigt.“

(Deloitte)  

„Stress im Job ist normal. Der verträgt ja gar nix.“, „Wenn der schon mal psychisch krank war, würde ich dem keine große Verantwortung mehr geben“, „Der hat einen normalen Workload und redet gleich von Burn-out – wie peinlich.“ Solche und ähnliche Zitate sind leider noch immer aktuell. Solange wir nicht das Bewusstsein für diese ernstzunehmenden Erkrankungen schaffen, können wir auch Stigmatisierungen nicht entgegenwirken.  

2. Steuerungen des Gesundheitsmanagements und Investitionen sind zäh

Punktuelle Maßnahmen wie einzelne Online-Events oder mal eine Motto-Woche zum Thema „Mental Health“ reichen nicht aus, sondern können nur als Begleitprogramm dienen. Jede psychische Belastung ist individuell. Die Auslöser müssen nicht zwingend mit den Arbeitsumständen zu tun haben. Sie entstehen auch im Privatleben und werden ins Arbeitsleben getragen. Die Hilfsangebote müssen daher vielseitig und auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter/-innen zugeschnitten sein. In einigen Unternehmen scheint jedoch noch Unklarheit zu herrschen, (ob und) wer sich eigentlich mit dem Thema Gesundheitsmanagement strategisch beschäftigt. Vermutlich würde kaum ein Unternehmen abstreiten, dass ihm die Gesundheit der Mitarbeiter/-innen wichtig ist. Gleichzeitig ist aber zu beobachten, dass sogar in großen Unternehmen, denen es nicht an finanziellen Mitteln mangelt, die Ressourcen für das Gesundheitsmanagement klein gehalten werden.  

„Laut der Weltgesundheitsorganisation erzielt jeder US-Dollar, der in die Behandlung von psychischen Belastungen investiert wird, einen Gewinn von vier US-Dollar aufgrund besserer Produktivität.“ 

Wer diese Themen ernst nimmt und präventive Maßnahmen ergreift, unterstützt nicht nur die Gesundheit seiner Mitarbeiter/-innen, sondern auch die Wirtschaft. Die Gesundheitsabteilung (sofern es eine gibt), wird im kommenden Jahr mit Führungskräften und dem HR noch stärker an diesen Themen Hand in Hand zusammenarbeiten müssen.  

3. „Lieber keinen Stress mit dem Stress“ – Führungskräfte widmen dem Thema zu wenig Aufmerksamkeit

Wie bei vielen anderen Themen ist es wichtig, dass das Management in den Unternehmen der Belegschaft zeigt, wie es sich dazu allgemein positioniert und Entwicklungen fördert.   

In manchen Unternehmen mit starken Betriebsräten gibt es zumindest einmal im Jahr eine umfangreiche Umfrage zur psychischen Belastung der Mitarbeiter/-innen, doch ein Dialog im Anschluss, um über die Erkenntnisse der Umfrage zu sprechen und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung vorzunehmen, gehört selten zum Prozess dazu. Die psychische Gesundheit der Mitarbeiter/-innen muss auf den Führungsetagen dauerhaft präsent sein. Wer sich als Führungskraft auf die Fahne schreibt, nach „New Work“-Prinzipen seine Firma voranzubringen, sollte sich vor allem um die Gesundheit seiner Mitarbeiter/-innen kümmern.

Ich frage mich, wie es wäre, wenn ein Unternehmen seine eigenen KPIs nicht nur nach wirtschaftlichen Erfolgen auslegen, sondern sich zusätzlich auch zum Ziel setzen würde, glücklichere und gesündere Mitarbeiter zu haben? Naiv? Eine Utopie? 

Was ist zu tun?

1. Achtsam sein. Mit sich selbst und mit anderen: 

Der Umgang mit psychischer Belastung muss gelernt werden und erfordert viel Verständnis und Empathie. Die Tabuisierung psychischer Belastungen bleibt bestehen, solange Stigmatisierungen in der Arbeitswelt existieren. Wir sollten lernen, Stigmatisierungen zu erkennen und den Mut aufbringen, diese anzusprechen. Denn nur gemeinsam können wir Denkmuster aufbrechen und die Kultur verändern. 

2. Ein betriebliches Gesundheitsmanagement zum Erhalt und zur Förderung des Wohlbefindens auf- beziehungsweise ausbauen: 

Arbeitgeber/-innen brauchen einen Plan und Ressourcen, um ganzjährig für das Wohlbefinden der Mitarbeiter/-innen zu sorgen. Der Ausbau an Angeboten, Sprechstunden, Kooperationen, Beratungsunterstützungen sowie die notwendigen finanziellen Investitionen gehören dazu. Regelmäßige Pulsbefragungen und ein Diskurs in den Unternehmen sind ebenso notwendig. 

3. Anonyme Hilfsangebote schaffen: 

Solange Betroffene schweigen, bedeutet das leider auch, dass sie auf Unterstützungsmöglichkeiten verzichten und sich ihr Zustand verschlimmern kann. Vielen Betroffenen kommt es sehr entgegen, wenn sie anonymen Zugang zu Hilfsangeboten im Unternehmen haben und beispielsweise mit schweigepflichtigen Betriebsärzten/Ärztinnen oder anderen Vertrauenspersonen im Unternehmen ein Gespräch suchen können. Digitale Angebote wie Online-Trainings senken ebenfalls die Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen und können zudem die Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken. Sie können auch zum Einsatz können, wenn es innerhalb des Unternehmens keine Hilfsangebote gibt.

4. Führungskräftetrainings und Coachings:

 Da sich der persönliche Kontakt unter den Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen reduziert hat, wird es auch für Führungskräfte immer schwieriger, die emotionale Verfassung der Mitarbeiter/-innen zu erkennen und auf Distanz Vertrauen und Nähe aufzubauen. Umso wichtiger ist es für Arbeitgeber/-innen, die Führungskräfte zum Thema zu schulen und ihnen passende Hilfsmittel an die Seite zu geben. 

5. Präventiv handeln: 

Das heißt, von Beginn an eine Arbeitsumgebung zu schaffen, die nicht durch zu hohe Arbeitsauslastungen, Unfairness, Unsicherheiten und viele weitere negative Faktoren geprägt ist. Wir müssen das gesamte System überdenken und am System arbeiten!

Über die Autorin

Portrait von Barbara Kolocek

Barbara Kolocek

Dozentin Arbeits-, Personal-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie, Co-Herausgeberin des Buches "Arbeitswelt der Zukunft", INQA-Coach, Trainerin, Moderatorin.

Barbara Kolocek befasst sich seit über 10 Jahren mit den Zukunftsfragen zum Wandel der Arbeitswelt. Nach Stationen beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), Axel Springer und zuletzt in einem Start-up, hat sie sich selbständig gemacht und begleitet seitdem Unternehmen im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung. Sie ist Co-Herausgeberin des beim Springer Gabler Verlag erschienen Buches „Arbeitswelt der Zukunft“ und arbeitet nebenbei als Dozentin für diverse Themenfelder im Kontext „New Work“ an der SRH Berlin/Hamm/Münster, der Hochschule Fresenius und der Internationalen Hochschule (IU).