Ambiguitätstoleranz als Future Skill: Klar denken, wo nichts eindeutig ist
26.06.2025 | Barbara Kolocek

Unser ZP-Face Barbara Kolocek empfiehlt das Buch „Alles, was dazwischenliegt“ von Nesibe Kahraman. In einer Zeit, in der die Welt sich immer stärker in Gegensätze aufteilt, wird Ambiguitätstoleranz zunehmend wichtiger. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Unsicherheiten, Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten, ohne vorschnell in Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“ zu denken.
Wer bereit ist, differenziert hinzuschauen und die Graustufen zwischen den Polen zu erkennen, schafft Raum für neue Perspektiven und tragfähige Lösungen abseits starrer Schwarz-Weiß-Muster.
Warum fällt es uns so schwer, Widersprüche auszuhalten und Mehrdeutigkeit zu akzeptieren? Unser Gehirn liebt klare Antworten – doch genau darin liegt die Gefahr, komplexe Zusammenhänge zu übersehen und wertvolle Perspektiven auszublenden.
Doch im Alltag gibt es selten nur eine richtige Lösung. Wer Unsicherheit aushalten kann, bleibt handlungsfähig, trifft bessere Entscheidungen und bleibt offen für neue Wege.
Ein Beispiel: Ein Team soll entscheiden, ob ein Produktfeature weiterentwickelt oder eingestellt wird. Die Datenlage ist nicht eindeutig – es gibt Argumente für beide Seiten. Eine absolute richtige Entscheidung gibt es nicht, sondern nur eine, die unter den gegebenen Bedingungen die beste ist.
Oder in der Kundenkommunikation: Soll auf eine Beschwerde formell oder locker reagiert werden? Beides kann richtig sein, je nach Kunde, Kontext und gewünschter Wirkung. Eine feste Regel wäre zu einfach – stattdessen braucht es situatives Fingerspitzengefühl.
In vielen Arbeitsbereichen sind eindeutige Lösungen nicht realistisch. Statt nach absoluter Sicherheit zu suchen, kann es helfen, Entscheidungen bewusst unter Unsicherheit zu treffen und verschiedene Perspektiven zuzulassen. Wo es keine eindeutige Lösung gibt, ist Flexibilität gefragt. Wer Ambiguität aushält, kann sich besser auf komplexe Herausforderungen einstellen und kreative, situationsgerechte Entscheidungen treffen.
Leider wird der Grundstein dafür bereits in der Schule gelegt…
In der Schule wurde uns beigebracht, dass es für Matheaufgaben nicht nur die richtige Lösung, sondern auch den richtigen Weg dorthin geben muss. Wer anders rechnete, bekam Punktabzug – selbst wenn das Ergebnis stimmte. Oft stand dann in Rot: „Richtige Lösung, aber falscher Weg.“
So lernen wir früh, uns an feste Regeln zu halten und andere Möglichkeiten auszublenden. Unsichere oder kreative Wege werden vermieden, wodurch neue Lösungen seltener werden. Es führen bekanntlich ja viele Wege auch nach Rom und nicht nur einer, also warum verkörpern wir das Sprichwort nicht auch häufiger im Alltag?

Warum die aktuelle politischen Diskussionen so polarisieren…
In vielen Debatten über den Klimawandel prallen Meinungen hart aufeinander. Eine Gruppe fordert schnelle, radikale Maßnahmen, um die Umwelt zu schützen. Die andere sorgt sich um wirtschaftliche Folgen und will langsamere Veränderungen.
Statt sich zuzuhören, beschimpfen sich beide Seiten oft als „realitätsfern“ oder „egoistisch“. Jeder sieht nur seine eigene Wahrheit: Entweder ist man für den Klimaschutz oder gegen die Wirtschaft – ein typisches Beispiel für kategoriales Denken.
Was als richtig oder falsch gilt, hängt oft davon ab, ob es der eigenen Meinung entspricht. Schnell verhärten sich die Fronten, Diskussionen werden persönlich, und Ansichten werden als unumstößliche Wahrheiten betrachtet. Doch anstatt Mehrdeutigkeit zuzulassen, verstärkt sich die Spaltung immer weiter. Statt eines echten Austauschs dominiert die Konfrontation. Statt zuzuhören und andere Perspektiven zu verstehen, zählt nur noch, wer gewinnt und wer verliert.
Mit Ambiguitätstoleranz ließe sich erkennen, dass es nicht nur zwei extreme Positionen gibt. Man könnte überlegen: Gibt es Lösungen, die beides berücksichtigen?
„Ambiguitätstoleranz ist die Toleranz für ambige – als uneindeutige, ungewisse, mehrdeutige – Situationen.“
Die Kunst der Ambiguitätstoleranz zeigt sich in der Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen den Worten zu lauschen und die Grautöne des Verstehens zu erkunden
Ambiguitätstoleranz bedeutet nicht, auf klare Meinungen oder feste Überzeugungen zu verzichten – das wäre weder realistisch noch sinnvoll. Sie erfordert auch nicht, alles zu tolerieren, sondern beschreibt die Fähigkeit, mit Unsicherheit, Mehrdeutigkeit und Widersprüchen umzugehen, ohne sich davon verunsichern zu lassen.
Menschen mit hoher Ambiguitätstoleranz sind offen für verschiedene Perspektiven, ohne ihre eigenen Überzeugungen aufzugeben. Sie können andere Standpunkte verstehen und respektieren, während sie dennoch klare Werte vertreten. Ihre Offenheit macht sie nicht prinzipienlos, sondern reflektiert und anpassungsfähig.
Unser Gehirn im Energiesparmodus – warum Neues uns so schwerfällt
Es kostet Energie und Anstrengung, mehr als eine Wahrheit zu akzeptieren und tolerant gegenüber anderen Sichtweisen zu sein. Man muss sich aktiv darauf einlassen, sich mit Perspektiven auseinanderzusetzen, die man eigentlich ablehnt. Doch woher soll diese Energie kommen, wenn bereits innerliche Konflikte so viel Kraft kosten?
Unser Gehirn bevorzugt Routinen, weil es auf Effizienz ausgelegt ist. Die Konfrontation mit neuen und komplexen Dingen erfordert Aufmerksamkeit und Konzentration – doch das Gehirn möchte Energie sparen und greift lieber auf Gewohntes zurück. Deshalb bleiben viele Menschen bei ihren bisherigen Überzeugungen, anstatt sich auf neue Sichtweisen einzulassen.
Eng damit verbunden ist ein weiterer kognitiver Fehler: der Confirmation Bias. Wir neigen dazu, gezielt nach Informationen zu suchen, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen. Alles, was widerspricht, wird ignoriert oder abgewertet.

Ein Beispiel: Jemand, der überzeugt ist, dass Impfungen gefährlich sind, wird vor allem Artikel und Videos konsumieren, die seine Meinung stützen. Studien, die das Gegenteil beweisen, werden als „manipuliert“ oder „gesteuert“ abgetan.
Medienalgorithmen verstärken diesen Effekt zusätzlich. Sie zeigen uns bevorzugt Inhalte, die zu unseren Interessen und Meinungen passen, weil sie wissen, dass wir eher darauf klicken. So entsteht eine Filterblase, in der wir immer wieder unsere eigenen Überzeugungen bestätigt sehen – und es noch schwerer wird, andere Perspektiven zu akzeptieren.
Mehr Offenheit durch kognitive Flexibilität
Wenn wir akzeptieren, dass es mehr als eine Wahrheit gibt und Unsicherheit keine Bedrohung ist, entwickeln wir kognitive Flexibilität – eine Fähigkeit, die uns vor Denkfehlern schützt.
Alltagsbeispiel: Du diskutierst mit einem Freund über Ernährung. Du bist überzeugt von deiner Methode, doch er hat mit einer anderen gute Erfahrungen gemacht. Statt sofort abzulehnen, hörst du zu und erkennst, dass verschiedene Wege funktionieren können.
Menschen mit hoher kognitiver Flexibilität können:
✅ Besser auf Veränderungen reagieren: Sie passen sich neuen Situationen schneller an.
✅ Vielseitige Lösungen finden: Sie denken nicht nur in starren Mustern, sondern suchen nach Alternativen.
✅ Offener mit Unsicherheit umgehen: Sie akzeptieren, dass nicht immer alles eindeutig oder vorhersehbar ist.
✅ Empathischer sein: Sie können sich besser in andere Sichtweisen hineinversetzen.
Kognitive Flexibilität und Ambiguitätstoleranz gehen Hand in Hand: Wer offen für Vieldeutigkeit ist, kann leichter umdenken – und wer flexibel denkt, kann besser mit Unsicherheiten umgehen. Ist nur eine davon vorhanden, bleibt das Denken begrenzt.
„Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler“, sagte Paul Cézanne. „Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph“, ergänzte Peter Sloterdijk.
Indem wir das Grau – die Zwischenstufen – zulassen, erkennen wir, dass die Welt nicht nur aus Gegensätzen wie richtig und falsch oder gut und böse besteht. Vieles liegt dazwischen – und genau dort beginnt das differenzierte Denken. (Aus dem Buch „Alles, was dazwischen liegt“
In einer Welt, die klare Antworten und feste Überzeugungen bevorzugt, ist die Fähigkeit, Zwischentöne zu akzeptieren, eine wertvolle Quelle für Resilienz und tiefes Verständnis

Ein bewusstes Überprüfen und Hinterfragen der eigenen Denkmuster, insbesondere der Glaubenssätze, bildet die Grundlage, um sowohl kategoriales Denken zu vermeiden als auch sich nicht in Projektionen zu verlieren. Wer sich selbst gut kennt, kann klarer unterscheiden, welche Aspekte der eigenen Wahrnehmung aus der Realität stammen und welche durch persönliche Interpretationen oder Erwartungen geprägt sind.
Buchempfehlung: Alles, was dazwischenliegt: Von der Kunst, innere Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten, Nesibe Kahraman
Über den Autor

Barbara Kolocek
Barbara Kolocek befasst sich seit über 10 Jahren mit den Zukunftsfragen zum Wandel der Arbeitswelt. Nach Stationen beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), Axel Springer und zuletzt in einem Start up, hat sie sich selbständig gemacht und begleitet seitdem Unternehmen im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung. Die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit liegen in Team- und Kommunikationstrainings. Wenn sie mal nicht bei den Wirtschaftsunternehmen vor Ort ist, moderiert sie diverse HR-Events oder engagiert sich in der Wissenschaft und Lehre. Sie ist Co-Herausgeberin des beim Springer Gabler Verlag erschienenen Buches „Arbeitswelt der Zukunft“ und arbeitet nebenbei als Dozentin für diverse Themenfelder im Kontext “Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie” an der SRH Berlin/NRW und der Hochschule Fresenius. Let´s connect