Warum wir Konflikte neu denken müssen
04.12.2025 | Barbara Kolocek
Brauchen wir ein neues Verständnis von Konflikten? Ja sagt Reinhard K. Sprenger. Viel zu lange wurden sie als Störung betrachtet, als etwas, das man vermeiden sollte. Doch diese Sichtweise wird der Realität nicht gerecht. Konflikte verschwinden nicht, nur weil wir sie wegdrücken. Sie verändern lediglich ihre Gestalt und werden schwerer zugänglich.
In einer Welt zunehmender Vielfalt und ständiger Veränderung sind Konflikte Ausdruck davon, dass unterschiedliche Bedürfnisse, Erwartungen oder Wahrnehmungen aufeinandertreffen. Sie sind also kein Defekt, sondern ein Signal. Wenn wir an einem überholten Konfliktbild festhalten, reagieren wir reflexhaft: mit Vereinfachungen, Schuldzuweisungen oder schnellen Kompromissen. Damit übersehen wir die eigentlichen Dynamiken.
Ein zeitgemäßes Konfliktverständnis heißt für mich: Konflikte als Ressource zu begreifen. Sie zeigen, wo etwas nicht mehr passt und Weiterentwicklung notwendig ist. Wenn wir ihnen mit Reflexion und der Bereitschaft begegnen, Ambivalenzen auszuhalten, können Konflikte sogar etwas sehr Gutes bewirken. Dabei unterscheidet der Autor zwei wesentliche Begriffe, die für das Verständnis von Konflikten zentral sind.
Konfliktklärung = Verstehen, worum es wirklich geht. Räume öffnen. Beziehungen beleuchten.
Konfliktklärung bedeutet bei Sprenger, den Konflikt zunächst transparent zu machen: die wahren Ursachen, Erwartungen, Bedürfnisse und Beziehungsmuster sichtbar zu machen. Es geht um Verstehen, nicht um sofortiges Handeln.
Konfliktlösung = Entscheiden, was konkret getan wird. Räume schließen. Vereinbarungen treffen.
Konfliktlösung ist das Ergebnis dieses Prozesses: eine Vereinbarung, eine Veränderung oder eine Entscheidung. Sprenger betont, dass echte Lösungen erst möglich sind, wenn zuvor gründlich geklärt wurde, worum es tatsächlich geht.
Kurz: Klärung ist der Weg – Lösung ist das Resultat.
Ambivalenz als Nährboden von Konflikten. Konflikte sind normal.
Konflikte entstehen immer dann, wenn Menschen in Situationen mit mehreren möglichen Deutungen oder Handlungswegen zu unterschiedlichen Bewertungen gelangen. Ambivalenz ist dabei nicht einfach ein Störfaktor, sondern ein Grundmerkmal menschlicher Erfahrung. Spannungen wie Vertrauen und Kontrolle begleiten uns ein Leben lang, weil sie zwei notwendige, aber widersprüchliche Perspektiven auf dieselbe Wirklichkeit darstellen.
Viele Menschen versuchen, solche Mehrdeutigkeiten zu vermeiden. Sie bevorzugen klare Grenzen und eindeutige Antworten, obwohl zentrale Werte ohne ihren Gegenpol kaum Sinn ergeben. Freiheit gewinnt Bedeutung erst im Bewusstsein der Kräfte, die sie begrenzen. Veränderung kann nur verstanden werden, wenn sie in Beziehung zur Stabilität steht, die ihr Orientierung verleiht. Ambivalenz zu akzeptieren heißt nicht, sich in Unentschlossenheit einzurichten, sondern die Komplexität eines Lebens anzuerkennen, in dem kein Zustand dauerhaft und kein Urteil endgültig ist.
Ambiguitätstoleranz entsteht, wenn man begreift, dass jede Entscheidung nur vorläufig bleibt und immer an den Kontext gebunden ist. Das Leben erfordert ein kontinuierliches Abwägen. Manchmal ist es sinnvoll, stärker zu strukturieren und Kontrolle auszuüben; in anderen Situationen ist Offenheit hilfreicher, um Entwicklung zu ermöglichen. Toleranz gegenüber Ambiguität bedeutet daher, sich flexibel auf unterschiedliche Anforderungen einzulassen und auch später noch bereit zu sein, die eigene Position zu überprüfen. Warum ist das nur so schwer?
….weil wir an Meinungen so gerne festhalten.
Stell dir vor, du gerätst mit einem Freund in eine hitzige Diskussion. Beide habt ihr überzeugende Argumente, doch keiner von euch ist bereit, seine Haltung aufzugeben. Das liegt daran, dass eine Meinung nicht einfach spontan entsteht. Sie entwickelt sich über einen längeren Zeitraum und wird Schritt für Schritt aufgebaut.
Der Ausdruck „sich eine Meinung bilden“ beschreibt diesen Prozess sehr treffend. Meinungen fallen uns nicht plötzlich zu. Sie wachsen aus den vielen Eindrücken, die wir im Laufe unseres Lebens sammeln. Dazu gehören Gespräche, Begegnungen, Reisen, Beobachtungen und persönliche Erfahrungen. Unser Gehirn nimmt all diese Eindrücke auf, ordnet sie ein, bewertet sie und speichert sie ab. Erst durch diese Verarbeitung entsteht später eine Überzeugung, die wir vertreten.
Am Ende jedes Denkprozesses entsteht in uns ein inneres Bild, eine Vorstellung von etwas. Unsere Sicht auf die Welt setzt sich aus vielen dieser Bilder zusammen. Jedes von ihnen wird von unseren Gefühlen, Erfahrungen und Erwartungen geprägt. Wir sind nicht rein sachliche Wesen, sondern denken und handeln mit Emotionen.
Je mehr wir in eine Meinung investiert haben, desto entschlossener halten wir an ihr fest und verteidigen sie.
Wenn ein neues inneres Bild entsteht, investieren wir automatisch Zeit, Aufmerksamkeit und Gefühle. Deshalb fällt es uns schwer, eine gefestigte Meinung anzuzweifeln. Wird sie durch neue Informationen erschüttert oder von anderen kritisiert, wirkt es so, als wäre all das infrage gestellt, was wir innerlich hineingelegt haben.
Also wie „lösen“ wir Konflikte? Wir schauen zunächst in uns rein…
Überall dort, wo Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen zusammentreffen, entsteht Konfliktpotenzial. Entscheidend ist nicht, ob Konflikte auftreten, sondern wie man sie nutzt. Eine wirksame Konfliktbearbeitung richtet den Blick nicht nur auf den aktuellen Streit, sondern auch auf die Themen, die ihn im Hintergrund prägen.
Der psychosoziale Ansatz konzentriert sich auf diese inneren Beweggründe. Viele Menschen haben nicht gelernt, ihre Bedürfnisse klar auszudrücken. Solange sie erfüllt werden, bleiben sie unscheinbar. Erst wenn sie verletzt sind, verwandeln sie sich oft in Vorwürfe statt in klare Wünsche. Damit verhärtet sich der Konflikt, obwohl sein Kern häufig ein unausgesprochenes Bedürfnis ist.
Der erste Schritt der Konfliktbewältigung besteht daher in der Selbstregulation. Sie hilft, innere Ruhe zu gewinnen und die eigenen Emotionen, Auslöser und Erwartungen zu sortieren. Dabei wird sichtbar, wie persönliche Erfahrungen die Wahrnehmung verzerren können. Frühere Verletzungen oder alte Muster können dazu führen, dass harmlose Situationen als Angriff empfunden werden. Wer diese inneren Hintergründe erkennt, reagiert weniger impulsiv und kann seine Bedürfnisse bewusster kommunizieren. Selbstregulation bildet somit die Grundlage der Selbststeuerung – der Fähigkeit, unter Stress konstruktiv zu handeln.
In komplexeren Arbeitskontexten reicht die reine Innenschau jedoch nicht aus. Je mehr Personen beteiligt sind, desto stärker vermischen sich Interessen, Rollen und unausgesprochene Erwartungen. Deshalb folgt auf die Selbstregulation die Beziehungsregulation: die bewusste Klärung des Miteinanders, der Rollen und der Art, wie man miteinander umgeht. Erst danach wird in der Sachklärung untersucht, wodurch der Konflikt tatsächlich entstanden ist und wie zukünftige Missverständnisse vermieden werden können.
Menschen verhalten sich immer systemintelligent
Konflikte entstehen immer innerhalb eines sozialen Systems und nicht allein aus individuellen Motiven heraus. Der psychosoziale Ansatz richtet den Blick auf innere Ursachen und folgt damit der Tradition Freuds, der Konflikte als Ausdruck persönlicher Erfahrungen und Emotionen deutete.
Der systemische Ansatz hingegen betrachtet das äußere Umfeld. Er fragt, welche Wechselwirkungen zwischen den Beteiligten bestehen und wie die Struktur einer Organisation das Verhalten beeinflusst.
Ein Beispiel macht das deutlich. Wenn du möchtest, dass deine Mitarbeitenden eigenständig Entscheidungen treffen, jemand aber ständig Rückfragen stellt, würdest du dieses Verhalten vielleicht als Unsicherheit deuten. Der systemische Blick fragt jedoch zuerst, welchen Anteil das Umfeld an diesem Verhalten hat. Vielleicht hast du in der Vergangenheit oft korrigierend eingegriffen oder Erwartungen nicht klar kommuniziert. Dann lohnt es sich zu überlegen, welche Voraussetzungen Menschen brauchen, um mutiger und selbstständiger zu handeln. Das kann durch klarere Entscheidungsräume, verlässliches Feedback oder ein bewusstes Aushalten anderer Lösungswege entstehen.
Viele Spannungen entstehen zudem nicht aus persönlichen Differenzen, sondern aus institutionellen Strukturen. So geraten Personalentwicklung und Controlling häufig aneinander, weil die einen in Weiterbildung investieren möchten, während die anderen Budgets reduzieren sollen. Statt den strukturellen Zielkonflikt zu erkennen, werden schnell persönliche Eigenschaften zugeschrieben. Dabei liegt die Ursache nicht im Charakter, sondern in den unterschiedlichen Aufgabenbereichen.
Gute Führung bedeutet, Konflikte zu gestalten
Kompetente Führungskräfte vermeiden Konflikte nicht, sondern steuern sie bewusst. So verhindern sie, dass einzelne Bereiche dauerhaft übermäßig Einfluss gewinnen und die Organisation aus dem Gleichgewicht gerät. Führung bedeutet in diesem Sinne, zwischen unterschiedlichen Einheiten zu vermitteln, ihre jeweiligen Sichtweisen zu verstehen und Entscheidungen situationsbezogen sowie veränderbar zu halten. Gute Führung verspricht keine künstliche Eindeutigkeit, zeigt Urteilskraft und reflektiert den eigenen Einfluss auf Konfliktdynamiken. Konflikte werden nicht unterdrückt, sondern als Chance für Entwicklung genutzt.
Ein verbindendes Fundament ist der Kunde. Er schafft Orientierung, stärkt die gemeinsame Ausrichtung und erleichtert eine produktive Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Interessen.
Was kann helfen, um den Umgang mit Konflikten neu zu denken?
Feste Gesprächsräume einrichten:
Regelmäßige Austauschformate wie Teamwerkstätten oder moderierte Konfliktforen bieten einen geschützten Rahmen, um frühzeitig über Spannungen, Rollen, Kommunikationsmuster und Zusammenarbeit zu sprechen. Eine neutrale Moderation unterstützt dabei, Konflikte rechtzeitig sichtbar zu machen und konstruktiv zu bearbeiten.
Konfliktkompetenz stärken:
Führungskräfte erweitern ihre Konfliktkompetenz, indem sie Bedürfnisse klar benennen, aktiv zuhören und zwischen Emotionen und Fakten unterscheiden. Hilfreich ist eine regelmäßige Selbstreflexion, etwa darüber, ob man in Auseinandersetzungen eher zum Rückzug, zur Gegenwehr oder zur schnellen Rechtfertigung neigt. Ich-Botschaften, das bewusste Aushalten von Pausen und das Nachfragen anstelle von Interpretationen fördern eine souveräne Haltung. Offenheit gegenüber ungewohnten Perspektiven erweitert den eigenen Blick und unterstützt ein tieferes Verständnis.
Meine Zusammenfassung basiert auf dem folgenden Buch: Magie des Konflikts – Warum ihn jeder braucht und wie er uns weiterbringt von Reinhard K. Sprenger (Broschiert, erschienen am 24. Januar 2022).
Über die Autorin
Barbara Kolocek
Barbara Kolocek befasst sich seit über zehn Jahren mit den Zukunftsfragen rund um den Wandel der Arbeitswelt. Nach Stationen beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), Axel Springer und zuletzt in einem Start-up hat sie sich selbständig gemacht. Seither unterstützt sie Unternehmen mit Trainings, die auf Teamentwicklung, den Aufbau einer vertrauensvollen Kommunikationskultur und die Weiterentwicklung von Führungskompetenzen ausgerichtet sind. Neben ihrer Arbeit mit Unternehmen ist sie regelmäßig als Moderatorin auf HR-Veranstaltungen im Einsatz und engagiert sich in Forschung und Lehre. Sie ist Co-Herausgeberin des beim Springer Gabler Verlag erschienenen Buches „Arbeitswelt der Zukunft“ und lehrt an der SRH in Nordrhein-Westfalen sowie an der Hochschule Fresenius in Berlin im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie. Let´s connect