My Big New von Julia Kahle
Julia Kahle | 20.11.2023 | 5 Minuten Lesezeit

Raus aus der Fremdbestimmung! – Leitfaden zum “Care Crafting” für Unternehmen
Wenn es um die Vereinbarkeit von Beruf und Care-Arbeit geht, müssen wir über Fremdbestimmung sprechen. Sie stellt nicht nur für Mitarbeiter:innen mit Betreuungspflichten einen Stressfaktor dar, sondern birgt auch für Unternehmen Herausforderungen und Unsicherheiten: Werden meine Mitarbeiter:innen lange in Elternzeit sein? Kommen sie danach zurück? Wie verlässlich sind sie? – Um diese Unsicherheiten zu kompensieren, neigen Unternehmen oft zu mehr Kontrolle. Doch strenge Arbeitszeiten und ständige Präsenz im Büro erhöhen die Fremdbestimmung zusätzlich und bedeuten noch mehr Stress für betreuende und pflegende Mitarbeiter:innen.
Das Crafting-Prinzip
Care Crafting ist ein Ansatz, der Unternehmen und Mitarbeiter:innen in anspruchsvollen Lebensphasen mehr Selbstbestimmung und Planbarkeit ermöglichen kann. Angelehnt an das Job Crafting geht es darum, dass Mitarbeiter:innen ihre Arbeit anpassen, um bestmöglich und motiviert zu agieren. Job Crafting konzentriert sich zum einen auf die Arbeit selbst (Task Crafting), aber auch auf Beziehungen im Arbeitsumfeld (Relational Crafting) und Denkansätze (Cognitive Crafting):
- Task Crafting: Mitarbeiter:innen passen ihre Aufgaben an ihre Fähigkeiten oder Interessen an.
- Relational Crafting: Mitarbeiter:innen arbeiten bewusst an Interaktionen und Beziehungen im Arbeitsumfeld.
- Cognitive Crafting: Mitarbeiter:innen ändern ihre Perspektive auf ihre Tätigkeit, um sie z.B. als Teil eines größeren Ganzen zu sehen.
Die treibende Kraft hinter dem Prozess sind die Mitarbeitenden selbst. Gerade mit Blick auf eine gute Employee Experience und die Bindung von Fachkräften ans Unternehmen bekommt Job Crafting jedoch auch zunehmend eine strategische Bedeutung in der Personalarbeit.
Vom Job Crafting zum Care Crafting
Die drei Crafting-Prinzipien sind eine gute Grundlage für das Care Crafting. Das Ziel besteht darin, dass Unternehmen und ihre Mitarbeiter:innen miteinander kommunizieren und gemeinsam Vereinbarkeitslösungen entwickeln, die modern, zuverlässig und leicht umsetzbar sind.
Zu Beginn ist es wichtig, sich klarzumachen, worauf die Beteiligten Einfluss nehmen können und was außerhalb ihrer Macht steht. Hierbei bietet der "Circle of Influence", ein von Stephen R. Covey in "The 7 Habits of Highly Effective People" vorgestelltes Konzept, eine gute Orientierung. Er unterteilt unsere Einflusssphäre in drei Ebenen:
- Control – Aspekte, die wir direkt steuern können, wie unsere Gedanken, unser Verhalten und unsere Entscheidungen,
- Influence – Dinge, die wir indirekt beeinflussen können, wie zwischenmenschliche Beziehungen oder unsere Arbeitsqualität,
- Concern – Dinge, auf die wir keinen direkten Einfluss haben, etwa weltweite Ereignisse oder Handlungen Dritter
Fürs Care Crafting sind vor allem die ersten beiden relevant, da sie Aspekte beinhalten, die wir kontrollieren oder beeinflussen können.
Care Crafting: Erste Schritte
Es gibt viele Fragen, die Unternehmen und Mitarbeiter:innen im Zuge des Care Crafting-Prozesses reflektieren können. Hier einige Vorschläge, um direkt loszulegen:
Professional & Care Task Crafting
- Welche beruflichen Aufgaben müssen erfüllt werden?
- Sind bestimmte Aufgaben an diese eine Person gebunden oder kann jemand anders bei Bedarf einspringen?
- Ist die Einführung von Job-Tandems für Personen mit Care-Verantwortung sinnvoll? Wie könnten diese ausgestaltet werden?
- Welche Aufgaben sind so kritisch, dass sie kontinuierlich ausgeführt werden müssen?
- Wie können Arbeitsbedingungen so gestaltet werden, dass sie effizientes Arbeiten und zugleich eine klare Trennung von Erwerbs- und Care-Arbeit ermöglichen?
- Welche Care-Aufgaben können delegiert werden und wie kann das Unternehmen hierbei Unterstützung bieten?
Relational Care Crafting:
- Mit welchen Kolleg:innen arbeitet der:die Mitarbeiter:in am liebsten? Wer versteht seine:ihre aktuelle Lebenssituation besonders gut?
- Wer könnte vorübergehend bestimmte Aufgaben übernehmen, die schwer mit Care-Aufgaben zu vereinbaren sind? Wer wäre zum Tausch von Aufgaben bereit?
- Gibt es Kolleg:innen, die ähnliche Erfahrungen, z.B. in der häuslichen Pflege, gemacht haben und ihre Erkenntnisse teilen möchten? Wie können Safe Spaces für solche Gespräche im Unternehmen geschaffen werden?
- Was braucht der:die Mitarbeiter:in in dieser Lebensphase von seiner Vorgesetzten?
- Benötigt eventuell auch der Partner oder die Partnerin Hilfe in Bezug auf Betreuungs- und Pflegeaufgaben?
Cognitive Care Crafting:
- Wie entwickeln Mitarbeiter:innen und Unternehmen ein grundsätzlich positives Verständnis von Betreuung und Pflege als Teil des Lebens?
- Wie kann das Unternehmen zudem eine unterstützende Haltung zu den familiären Verpflichtungen der Mitarbeiter:innen entwickeln?
- Was sind die Vorteile, wenn Mitarbeiter:innen sich um andere kümmern?
- Welche Fähigkeiten erwerben Mitarbeiter:innen durch Care-Arbeit??
- Wie können Care und Beruf sich gegenseitig bereichern?
Fazit
Die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Care-Arbeit stellt keine unüberwindbare Herausforderung dar, der Unternehmen hilflos gegenüberstehen. Besonders in Branchen, die vom Fachkräftemangel betroffen sind, haben Arbeitnehmer:innen eine starke Verhandlungsposition und können eine Kultur der Vereinbarkeit zur Bedingung für ihre Anstellung im Unternehmen machen. Unternehmen haben durch die Digitalisierung zahlreiche neue Möglichkeiten, um Unterstützung im Bereich der Kinderbetreuung und Pflege leicht zugänglich zu machen und moderne Lösungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Care-Arbeit zu schaffen. Es geht nicht um die Frage, ob es machbar ist, sondern darum, ob Unternehmen endlich an dem Punkt angekommen sind, es (allein aus unternehmerischen Interessen) zu wollen.